Schröpfen in der Physiotherapie – alte Technik, neuer Nutzen?
Schröpfen ist eine Therapieform mit langer Tradition, die ihren Ursprung bereits im alten Ägypten, China und Griechenland hatte. Damals wie heute wird sie angewendet, um körperliche Beschwerden zu lindern, die Durchblutung anzuregen und muskuläre Verspannungen zu lösen. Während der Ansatz früher stark von naturheilkundlichen und energetischen Denkmodellen geprägt war, wird Schröpfen heute auch in der modernen Physiotherapie eingesetzt – und zwar als unterstützende Maßnahme im Rahmen ganzheitlicher Behandlungskonzepte.
In der physiotherapeutischen Praxis wird Schröpfen nicht als alleinstehende Maßnahme verstanden, sondern vielmehr als sinnvolle Ergänzung zu klassischen Techniken wie Massage, Mobilisation, Triggerpunktbehandlung oder aktiver Bewegungstherapie. Das Verfahren kann helfen, Gewebestrukturen zu lockern, den Lymphfluss zu fördern und Schmerzen zu lindern – und erfreut sich daher wachsender Beliebtheit in vielen Praxen.
Doch was steckt genau hinter dem Schröpfen? Wie wirkt es auf den Körper? Und unter welchen Bedingungen darf es überhaupt in der Physiotherapie angewendet werden? Diesen Fragen widmen wir uns in diesem Artikel.
Schröpfen: Techniken und Funktionsweise
Das Grundprinzip des Schröpfens ist einfach, aber wirkungsvoll: Durch das Aufsetzen von speziellen Schröpfgläsern oder flexiblen Silikonkapseln auf die Haut entsteht ein Unterdruck, der das darunterliegende Gewebe anhebt. Dieser mechanische Reiz führt zu einer lokalen Mehrdurchblutung und aktiviert Prozesse im Lymph- und Bindegewebe. Je nach Intensität kann es zu einer sichtbaren Hautrötung oder zu kleinen Blutergüssen kommen – beides Hinweise auf eine gesteigerte Durchblutung.
In der physiotherapeutischen Anwendung unterscheidet man grob zwei Hauptvarianten:
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Statisches Schröpfen: Die Schröpfgefäße werden an bestimmten Punkten fixiert – z. B. auf Triggerpunkten oder Arealen mit besonders hoher Gewebespannung. Diese Technik eignet sich vor allem bei lokal begrenzten Beschwerden.
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Dynamisches Schröpfen (Schröpfmassage): Hier wird das Schröpfgefäß auf der eingeölten Haut bewegt, was eine Massagewirkung mit Unterdruck erzeugt. Diese Methode kommt besonders bei großflächigen Muskelverspannungen oder zur Behandlung der Faszien zum Einsatz.
Beide Techniken lassen sich individuell anpassen – sowohl in der Stärke des Unterdrucks als auch in der Behandlungsdauer. Dabei ist Fingerspitzengefühl gefragt: Zu starker Druck kann zu unangenehmen Nebenwirkungen wie Hämatomen oder Hautreizungen führen, während zu schwacher Druck möglicherweise keine ausreichende Wirkung erzielt.
Physiologische Effekte: Was passiert im Gewebe?
Die Wirkung des Schröpfens ist auf mehreren Ebenen nachvollziehbar und wissenschaftlich erklärbar – auch wenn viele Details noch weiter erforscht werden müssen. Besonders relevant für die Physiotherapie sind folgende physiologische Prozesse:
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Steigerung der lokalen Durchblutung: Durch das Vakuum werden Kapillaren (kleinste Blutgefäße) erweitert, was den Blutfluss in der behandelten Region deutlich erhöht. Das kann zur verbesserten Versorgung des Gewebes mit Sauerstoff und Nährstoffen führen und unterstützt den Abtransport von Stoffwechselendprodukten.
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Aktivierung des Lymphsystems: Der mechanische Zug auf das Gewebe kann Lymphflüssigkeit in Bewegung setzen, was vor allem bei Schwellungen oder Stauungen hilfreich sein kann. Schröpfen wird deshalb auch begleitend bei lymphatischen Beschwerden eingesetzt.
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Lösung von Faszienverklebungen: Die Faszien – also die bindegewebigen Hüllen um Muskeln und Organe – können durch Überlastung, Bewegungsmangel oder Stress verkleben. Schröpfen wirkt dem entgegen, indem es diese Schichten mechanisch mobilisiert und ihre Gleitfähigkeit verbessert.
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Schmerzreduktion durch neurologische Reize: Ähnlich wie bei der Akupressur oder Triggerpunktbehandlung kann das Schröpfen über nervale Reflexbögen eine Schmerzlinderung bewirken. Dies geschieht unter anderem durch die Hemmung der Schmerzweiterleitung im Rückenmark (Gate-Control-Theorie).
Diese Effekte machen das Schröpfen besonders interessant für die physiotherapeutische Praxis – insbesondere bei chronischen Beschwerden, myofaszialen Schmerzen oder funktionellen Bewegungseinschränkungen.
Anwendungsmöglichkeiten in der Physiotherapie
In der Praxis findet Schröpfen vor allem bei Beschwerden des Bewegungsapparates Anwendung. Häufige Einsatzgebiete sind:
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Verspannungen im Schulter-Nacken-Bereich
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Lumbalgien (Rückenschmerzen im Lendenwirbelbereich)
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Ischialgien oder muskuläre Reizzustände
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Triggerpunkte in der Tiefenmuskulatur
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Verklebungen und Einschränkungen im Bindegewebe, z. B. nach Operationen
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Begleitend zur Lymphdrainage bei Stauungsproblemen
Ein weiterer Anwendungsbereich ist die Narbenbehandlung: Durch gezieltes Schröpfen kann verhärtetes Narbengewebe mobilisiert und dessen Elastizität verbessert werden. Auch bei Sportverletzungen – etwa Zerrungen oder muskulären Dysbalancen – kann die Methode in der Rehabilitationsphase zum Einsatz kommen.
Wichtig: Die Behandlung sollte immer individuell angepasst werden. Je nach Beschwerdebild, Gewebetyp und Schmerzempfinden kann die Intensität, Dauer und Technik variieren.
Ist Schröpfen in der Physiotherapie erlaubt?
Diese Frage stellt sich besonders für Therapeut:innen, die rechtlich auf der sicheren Seite stehen wollen. Die Antwort lautet: Ja – unter bestimmten Voraussetzungen.
Schröpfen zählt nicht zu den klassischen Heilmitteln im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung und ist daher nicht regulärer Bestandteil der Physiotherapie-Leistungskataloge. Dennoch ist die Anwendung erlaubt, wenn sie entweder:
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im Rahmen einer privaten Zusatzleistung erfolgt,
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oder ergänzend zu einer physiotherapeutischen Behandlung angeboten wird, die ärztlich verordnet ist.
Dabei ist entscheidend, dass die Anwendung sachgerecht erfolgt und über eine entsprechende Weiterbildung oder Fortbildung abgesichert ist. Zudem muss klar dokumentiert sein, dass das Schröpfen als unterstützende Maßnahme erfolgt – nicht als alleinige therapeutische Leistung.
Kontraindikationen wie Hautverletzungen, Thrombosen, schwere Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Gerinnungsstörungen sind unbedingt zu beachten. Eine gute Aufklärung und Einwilligung der Patientin oder des Patienten ist ebenso selbstverständlich.
Wie nachhaltig wirkt Schröpfen? Ein Blick in die Praxis
In vielen physiotherapeutischen Praxen wird Schröpfen nicht nur zur kurzfristigen Linderung von Beschwerden eingesetzt, sondern auch mit dem Ziel, langfristige Veränderungen im Gewebe zu erzielen. Die Erfahrung zeigt: Besonders bei chronischen Muskelverspannungen, myofaszialen Schmerzsyndromen oder Bewegungseinschränkungen ist Schröpfen häufig ein Türöffner für nachhaltige Verbesserungen.
Dabei ist es wichtig, die Methode nicht isoliert zu betrachten. Schröpfen allein löst keine tiefgreifenden strukturellen Probleme, sondern wirkt vielmehr unterstützend, indem es Spannungen reduziert, Durchblutung fördert und die Beweglichkeit verbessert. Diese Effekte schaffen wiederum bessere Voraussetzungen für aktive Maßnahmen wie Haltungsschulung, Krafttraining oder funktionelle Bewegungsübungen.
In der Praxis wird Schröpfen deshalb oft in drei Phasen eingebettet:
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Vorbereitende Phase: Durch Schröpfen wird das Gewebe aufgelockert, die Muskulatur besser durchblutet und die Schmerzwahrnehmung reduziert – ideale Bedingungen für weiterführende Maßnahmen.
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Behandlungsphase: Anschließend folgen gezielte manuelle Techniken, aktive Bewegungen oder Mobilisationsübungen, die durch die vorherige Schröpfbehandlung effektiver wirken können.
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Nachbereitungsphase: Durch ergänzende Maßnahmen wie Wärmeanwendungen, Dehnübungen oder Atemtechniken kann die Wirkung stabilisiert und vertieft werden.
Diese strukturierte Herangehensweise ermöglicht es, das volle Potenzial des Schröpfens in der Physiotherapie auszuschöpfen – nicht als Ersatz, sondern als integrativer Bestandteil eines individuellen Therapieplans.
Studienlage und wissenschaftlicher Diskurs
Auch wenn Schröpfen oft unter dem Label „alternative Medizin“ läuft, existieren inzwischen mehrere wissenschaftliche Studien, die auf mögliche therapeutische Effekte hinweisen. Zwar ist die Qualität der Studien nicht immer auf dem höchsten methodischen Niveau, doch es lassen sich klare Tendenzen erkennen.
Beispielsweise zeigen randomisierte kontrollierte Studien, dass Schröpfen bei chronischen Nacken- und Rückenschmerzen zu einer signifikanten Reduktion der Schmerzintensität führen kann – teilweise vergleichbar mit klassischen physiotherapeutischen Maßnahmen wie Massage oder Wärmeanwendungen. Auch im Bereich der myofaszialen Triggerpunktbehandlung wurden positive Effekte beobachtet, insbesondere in Bezug auf Schmerzreduktion und Beweglichkeit.
Systematische Übersichtsarbeiten (Reviews) zeigen zudem, dass Schröpfen potenziell die Lebensqualität verbessern und funktionelle Einschränkungen mindern kann. Allerdings weisen Fachleute immer wieder darauf hin, dass weitere Studien mit größerer Teilnehmerzahl und besserer Methodik notwendig sind, um eindeutige Aussagen zur Wirksamkeit zu treffen.
Ein weiterer spannender Forschungsansatz beschäftigt sich mit der Neurophysiologie des Schmerzes: Schröpfen scheint auf spinaler und supraspinaler Ebene Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung zu haben – unter anderem durch die Aktivierung körpereigener Schmerzhemmungsmechanismen wie Endorphinausschüttung oder die Modulation nozizeptiver Reize im Rückenmark.
Auch wenn noch viele Fragen offen sind: Die aktuelle Studienlage spricht dafür, dass Schröpfen im physiotherapeutischen Kontext eine sinnvolle Ergänzung sein kann – besonders bei funktionellen Störungen des Bewegungsapparates.
Wann ist Schröpfen sinnvoll – und wann nicht?
Wie bei jeder therapeutischen Maßnahme gilt: Nicht jede Methode ist für jede Person geeignet. Schröpfen entfaltet sein Potenzial vor allem dann, wenn es gezielt, individuell und unter Beachtung möglicher Kontraindikationen eingesetzt wird.
Geeignete Einsatzbereiche sind unter anderem:
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Chronische Muskelverspannungen (z. B. durch Fehlhaltungen oder Bewegungsmangel)
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Myofasziale Triggerpunkte mit lokaler Schmerzempfindlichkeit
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Bewegungseinschränkungen durch Faszienverklebungen oder Narben
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Funktionelle Rückenschmerzen ohne strukturelle Ursachen
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Lymphatische Belastungen oder Schwellungen (in Kombination mit manueller Lymphdrainage)
Vorsicht geboten ist bei:
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Frischen Verletzungen, Prellungen oder Hämatomen
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Entzündlichen Hauterkrankungen wie Neurodermitis oder Psoriasis
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Infektiösen Prozessen im Behandlungsbereich
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Gerinnungsstörungen oder Einnahme blutverdünnender Medikamente
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Schwangerschaft (besonders im Bereich des Unterbauchs oder der Lendenwirbelsäule)
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Tumorerkrankungen oder schwerwiegenden internistischen Diagnosen (hier ist Rücksprache mit dem behandelnden Arzt unerlässlich)
Ein verantwortungsvoller Umgang mit der Methode setzt immer eine sorgfältige Anamnese, eine realistische Zielsetzung und eine gute Kommunikation mit der Patientin oder dem Patienten voraus. Schröpfen darf niemals schematisch angewendet werden, sondern muss immer Teil eines personalisierten Behandlungsansatzes sein.
Integration in den Therapiealltag
Ein großer Vorteil des Schröpfens in der Physiotherapie liegt in seiner Vielseitigkeit und Kombinierbarkeit. Die Methode lässt sich hervorragend mit klassischen Maßnahmen kombinieren, z. B.:
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als Vorbereitung auf manuelle Therapie, um Gewebe vorzubereiten und Schmerzen zu reduzieren
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als Ergänzung zu Triggerpunktbehandlungen, um tiefere Muskelareale zu erreichen
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als Teil von Narbenbehandlungen, um Verklebungen und Bewegungseinschränkungen zu lösen
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als flankierende Maßnahme in der Sportphysiotherapie, etwa zur Förderung der Regeneration nach intensiven Belastungen
Auch die einfache Anwendung mit modernen Silikonschröpfköpfen macht die Methode attraktiv: Sie sind flexibel, hygienisch und gut dosierbar. Viele Therapeut:innen berichten zudem, dass ihre Patient:innen das Schröpfen als angenehm und wohltuend empfinden – was die Akzeptanz in der Behandlung deutlich erhöht.
Fazit: Schröpfen – eine effektive Ergänzung mit viel Potenzial
Schröpfen ist eine faszinierende Methode, die sich trotz ihrer langen Geschichte ihren festen Platz in der modernen Physiotherapie verdient hat. Durch ihre vielseitige Wirkweise – von Durchblutungsförderung über Faszienmobilisation bis hin zur Schmerzlinderung – bietet sie zahlreiche Möglichkeiten zur Ergänzung klassischer physiotherapeutischer Maßnahmen.
Wissenschaftliche Studien liefern zunehmend Hinweise auf positive Effekte, auch wenn weitere Forschung nötig ist, um diese endgültig zu bestätigen. Entscheidend ist jedoch die richtige Anwendung: Schröpfen wirkt dann am besten, wenn es gezielt, individuell und verantwortungsvoll eingesetzt wird – als Baustein innerhalb eines durchdachten Behandlungsplans.
Für Patient:innen kann Schröpfen eine sanfte, nicht-invasive und weitgehend nebenwirkungsfreie Unterstützung bei einer Vielzahl von Beschwerden sein – insbesondere im Bereich der funktionellen Muskel- und Gelenkprobleme. Wer sich für die Methode interessiert, sollte mit der behandelnden Physiotherapeutin oder dem Physiotherapeuten das Gespräch suchen. Gemeinsam lässt sich klären, ob Schröpfen sinnvoll ist – und wie es am besten in den individuellen Therapieplan integriert werden kann.